Da stand ich nun, am Ende der Welt, und starrte in das schwarze Nichts. Ein Zwitschern lag in der Luft. Doch es gab hier keine Vögel. Das Zwitschern war einfach da. Es klang unwirklich und verstörend. Niemand hätte es wahrhaftig einer bestimmten Vogelart zugeschrieben. Dafür ähnelte es zu wenig etwas Lebendigem. Aber das war es nicht. Nichts war hier lebendig. Nichts, abgesehen von mir.
Der Boden unter meinen Füßen bestand aus vertrockneter Erde. Keine Pflanzen wuchsen hier. Dennoch roch es nach Vanille. Ich fragte mich, woher dieser Duft stammte. Denn es wehte kein Lüftchen. Vielleicht, so dachte ich, rührte das Aroma von einem Menschen her, der zuvor an diesem Platz stand. Ein schauriger Rest als Überbleibsel eines geliebten Menschen, der einst den Schritt durch diese Wand wagte. Ein Schritt, den ich mir nicht zutraute. Oder doch? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich nie wieder Vanilleeis essen könnte. Denn es würde mich immer wieder an diesen Ort erinnern.
Ich trat einen Schritt zurück und vernahm ein Knirschen, das meine Schuhe auf der dürren Erde verursachten. Auch die Erde hier schien unwirklich und fremd. Als wäre es keine Erde, sondern Schnee. Brauner Schnee, der unter meinen Füßen knirschte. Doch ich sackte nicht ein. Es war lediglich das Geräusch, das nicht passte. Erde klang anders. Erde klang bröckelig, steinig, und wenn sie von Regen durchtränkt war, matschig. Aber diese hier klang nach Schnee.
Ich drehte mich um und blickte den Weg zurück, den ich gekommen war. Es handelte sich nicht wirklich um einen Weg. Nur um die Illusion eines Weges. Ein karges dunkles Land – vom Schatten der Wand in einen Dauerzustand des Zwielichtes getaucht – erstreckte sich bis zum Horizont und weit darüber hinaus. Es gab nichts zu sehen. Keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschen. Nur das öde Land erstreckte sich vor meinen Augen. Einen halben Tagesmarsch hatte ich hierher gebraucht.
Das Schattenland – wie es die Medien nannten – war eigentlich Sperrzone. An der Linie, an derer der Schatten sein Ende fand, stellte man vor Jahren einen Zaun auf. Zumindest an manchen Stellen. Es war unmöglich, das gesamte Schattenland hinter einem Zaun zu verbergen. Und abgesehen davon kümmerte das Verbot niemanden. Jeder, der die Wand sehen wollte, fand auch einen Weg zu ihr. Genau wie ich.
Und da stand ich nun. Die schwarze Wand vor mir. Sie erstreckte sich zu beiden Seiten und in den Himmel, soweit das Auge reichte. Ich wusste, dass sie kein Ende besaß. Schließlich hatte ich stets mit großem Interesse die ausgiebigen Berichte im Fernsehen verfolgt. Ebenso, wie die restliche Hälfte der Menschheit. Die andere Hälfte war verschwunden. Irgendwo hinter der Wand. Irgendwo im schwarzen Nichts, das den halben Erdball verschluckte. Und niemand wusste, was sich dort abspielte – falls sich dort noch etwas abspielte.
Ich starrte in die Schwärze vor mir und holte tief Luft. Die Luft schmeckte metallisch. Noch so etwas, das ich mir nicht erklären konnte. Aber ich musste es auch nicht erklären können. Schließlich konnte es niemand erklären. Nicht einmal die brillantesten Köpfe der verbliebenen Menschheit konnten damit etwas anfangen. Warum also sollte ich darauf eine Antwort haben? Ich war auch nicht hier, um Antworten zu bekommen. Ich war hier, um jemanden zu finden. Einen Freund. Maurice.
Ich dachte zumindest, dass er ein Freund sei. Wir verstanden uns so gut. Wir hatten so viele Gemeinsamkeiten und so viel Spaß miteinander. Und dann sagte ich ihm etwas. Etwas Ehrliches. Etwas, das viel Mut verlangte. Und am nächsten Tag war er verschwunden. Einfach so. Ohne ein Wort. Niemand wusste, wohin. Aber insgeheim wusste jeder, wo er hingegangen war. Zur Wand. So wie jeder Mensch, der seinem Alltag entfliehen wollte – oder den Menschen in seiner Umgebung, oder seinem Leben.
Die Versuchung war groß und ich spürte sie bereits. Eine fremde Macht schien mich in Richtung Wand zu ziehen. Doch ich widerstand. Bislang. Ich spürte die plötzliche Sehnsucht, die mich überkam. Die Sehnsucht danach, zu erfahren, was sich hinter dieser schwarzen Monströsität befand. Unzählige Menschen hatten es bereits herausgefunden. Doch niemand war jemals zurückgekehrt. Nicht einmal die Roboter, die man hineingeschickt hatte, kehrten zurück. Die schwarze Wand gab ihr Geheimnis nicht Preis. Sie war einfach da.
Doch ich wollte sie bezwingen. Ich wollte nicht hineingehen. Ich wollte meinen Freund da herausholen. Nur wie?
Ich starrte unablässig in die Finsternis vor mir. Ein Schauder durchfloss meinen gesamten Körper. Doch das tat er bereits seit Stunden. Seit meiner Ankunft vor der Wand. Ich spürte den Schauder die ganze Zeit, doch langsam ignorierte ich ihn. Er gehörte zum Gesamterlebnis. Ich bückte mich vorsichtig und hob einen kleinen Stein vom Boden auf. Nachdenklich betrachtete ich ihn und drehte ihn zwischen meinen Fingern. Er war nierenförmig und sehr glatt. Ein Kieselstein. Dann ließ ich meinen Arm sinken und starrte wie hypnotisiert auf die Wand.
„Maurice?“, fragte ich vorsichtig. Ich erschrak. Meine Stimme klang, als befände ich mich in einem winzigen schalldichten Raum. Kein Hall, kein Echo. Vielleicht war ich zu leise. Beim zweiten Mal schrie ich.
„Maurice!“ Es klang genauso. Aber viel leiser. Als hätte man die Lautstärke meiner Stimme leiser gedreht. Ich umschloss mit aller Kraft den Kiesel in meiner Hand, so fest, dass sich meine Fingerknöchel weiß verfärbten. Mein Magen verkrampfte sich vor Furcht. Und dann warf ich den Stein auf die Wand. Er tauchte in die Schwärze ein, als wäre sie dunkles Öl und verschwand. Ich lauschte. Kein Geräusch. Kein Platsch, kein Bumm. Die Wand hatte ihn einfach in sich aufgenommen. Geräuschlos und präzise. Die Oberfläche vibrierte kurz, wie aufgescheuchtes Wasser, formte konzentrische Kreise, die immer größer wurden, und beruhigte sich allmählich wieder. Ich stand nur da und beobachtete das wunderschöne Spektakel. Es sah fantastisch aus. Es hatte etwas Lebendiges an sich.
Ein kurzer Schwall Kälte überkam mich plötzlich und ich schnappte nach Luft. Und dann, als sich die Oberfläche wieder beruhigte, entdeckte ich plötzlich mein Spiegelbild. Ich wich einen Schritt zurück. Entsetzen stand mir im Gesicht. Das konnte ich an meinem Spiegelbild erkennen. Wie war das möglich? Wieso sah ich mich plötzlich selbst? Was hatte das zu bedeuten? Ich trat näher an die Wand heran und beäugte mein Abbild, das so klar und deutlich vor mir stand, als wäre es mein Zwilling – gefangen in der schwarzen Wand.
Doch etwas an meinem Ebenbild stimmte mich misstrauisch. Es waren die Augen. Sie glichen meinen eigenen aufs Detail genau, doch der Ausdruck in ihnen wirkte fremd und kalt. Langsam trat ich einen Schritt näher und streckte meine Hand meinem Spiegelbild entgegen. Ich spürte, wie mein Herz sich überschlug. Ich stand im Begriff die Wand zu berühren. Sollte ich das tun? Sollte ich sie berühren? Würde ich hineingesogen?
Plötzlich zwinkerte mein Spiegelbild und preschte nach vorn. Aus der schwarzen Masse formte sich eine Hand, die meiner eigenen aufs Haar genau glich. Sie griff nach mir. Ich zog meine Hand zurück und stolperte nach hinten. Gerade noch rechtzeitig. Mit einem erschrockenen Angstschrei fiel ich zu Boden. Nur einen winzigen Augenblick wendete ich meinen Blick von der Wand ab. Und als ich wieder hinsah, da war mein Spiegelbild verschwunden.
Erleichtert atmete ich aus. Dann schlug mir etwas gegen die Stirn und ich fiel in Ohnmacht.
Ich musste mehrere Stunden da gelegen haben, bevor ich wieder erwachte. Mein Schädel dröhnte und ich konnte nichts sehen. Es war Nacht. Die finsterste Nacht, die ich je erlebt hatte. Nur die Sterne am Himmel bescheinigten mir, dass ich mich nicht im Inneren der Wand befand. Ich tastete benommen nach meiner Tasche und wühlte nach meiner Lampe. Ich fand sie, nahm sie heraus und schaltete sie an. Ich beleuchtete zunächst mein Gesicht, tastete die Beule an meiner Stirn ab. Anschließend beleuchtete ich den Boden. Und plötzlich wusste ich, was mich am Schädel getroffen hatte. Direkt neben mir lag ein nierenförmiger Kieselstein. Ein Zufall?
Ich nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Es war definitiv derselbe Stein, den ich zuvor in die Wand geworfen hatte. Ich blickte zur gähnenden Leere vor mir und richtete meine Taschenlampe darauf. Die Lampe ging aus. Ich hielt sie in meine Richtung. Und plötzlich erstrahlte sie wieder. Ich richtete sie auf die Wand. Es wurde wieder dunkel. Ich richtete die Lampe auf den Boden. Sie leuchtete wieder. Ich hatte einen Verdacht. Ich richtete die Lampe auf die Wand und hielt schließlich meine Hand vor die Lampe. Sobald das Licht auf meine Hand traf, leuchtete es. Sobald es die Wand traf, verschwand jedes Leuchten im Nichts.
Fasziniert hielt ich immer wieder meine Hand vor die Lampe und nahm sie wieder weg. Es erschien, als würde die Lampe jedes Mal ausgeknipst, doch sie lief durchgehend. Aber nach ein paar Minuten verging mir die Lust und ich beendete mein kindisches Treiben. Ich legte die Lampe neben mich auf den Boden, sodass sie mich beleuchtete, und rieb mir die schmerzende Stirn.
Ob mein Spiegelbild mir den Stein an den Kopf geworfen hatte? Von den Spiegelbildern wurde in den Medien nie berichtet. Vielleicht sahen sie nur die Personen, die später für immer in der Wand verschwanden. Ich erhob mich schwerfällig und starrte in die gähnende Leere vor mir. Kein Spiegelbild. Kein Vanilleduft. Nicht einmal das Zwitschern lag mehr in der Luft. Es herrschte absolute Stille. Und das beängstigte mich nur noch mehr.
Ich griff in meine Tasche und zog ein dünnes Seil hervor. Ich war schließlich nicht unvorbereitet hergekommen. Ich befestigte einen leuchtenden Ring, auf dem ich zuvor mit einem Filzstift eine Nachricht für meinen Freund Maurice geschrieben hatte, und warf ihn mit voller Wucht in die Wand hinein. Das Seil hielt ich fest im Griff. Der grün leuchtende Plastikring erhellte die Wand natürlich nicht im Geringsten. Als er sie passierte, verschwand er einfach im Nichts.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht, dass der Ring auf der anderen Seite auf eine Art Boden fiel und ich das Seil ohne Weiteres zurückziehen konnte? Vielleicht, dass der Ring von der anderen Seite die Wand erhellen würde, sodass man etwas sehen konnte? Ich rechnete eigentlich mit allem. Aber der plötzliche Ruck am Seil, der mich nach vorne taumeln ließ, überraschte mich dennoch. Ich versuchte das Seil festzuhalten und stemmte mich mit aller Kraft dagegen. Ich vergrub meine Füße im kargen Boden und ließ mich nach hinten fallen. Und dann fiel ich wirklich. Und das Seil mit dem Leuchtring kehrte zurück in meine Welt.
Ich sammelte mich kurz und starrte auf das grün leuchtende Ding neben mir. Für einen Augenblick blieb mein Herz stehen und mir wurde schwarz vor Augen. Denn auf dem Ring stand nicht mehr: Komm zurück, Maurice! Da stand nun: Hast du was auf dem Herzen?
Ich atmete einmal tief durch und schmeckte plötzlich etwas Fauliges. Der Geruch nach Verwesung stand in der Luft. Ich würgte. Ich begann zu hyperventilieren. War das die Antwort von Maurice? Oder war das die Wand? Hatte das Nichts mir diesen spöttischen Kommentar zurückgesandt?
Ich blickte zur Wand und hoffte auf eine Antwort. Aber ich wartete vergebens. Es kam keine Antwort. Den Rest der Nacht saß ich einfach nur da und starrte die Wand an. Ich überlegte, was ich tun sollte. Sollte ich hindurchgehen? Sollte ich mein Leben aufs Spiel setzen? Für Maurice? Maurice, der mich ohne ein Wort verlassen hatte? Maurice, der sich lieber hinter dieser Wand versteckte, als mit mir zu reden?
Nur flüchtig nahm ich die Dämmerung wahr, die langsam den schattigen Streifen entlang der Mauer erhellte. Der Leuchtring war längst erloschen und meine Augen tränten vor Anstrengung. Der Duft des Todes war verschwunden, oder ich nahm ich nicht mehr wahr. Es war mir gleich. Ich wollte Maurice wieder sehen. Ihm sagen, dass es mir leidtue, was auch immer ich getan hatte. Ich wusste es ja nicht einmal. Aber dann nahm ich den verloschenen Leuchtring in meine Hände und las den Satz darauf erneut. Es war seine Handschrift – ohne Frage. Aber es war abscheulich. Abscheulich und verachtend. Wenn er es geschrieben hatte, dann gäbe es keinen Grund ihm dorthin zu folgen, wo er jetzt war. Und wenn er es nicht geschrieben hatte, dann war er vermutlich schon tot. So oder so machte es keinen Sinn, durch diese Wand zu gehen. Dennoch fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Der Verstand wies mir den Weg nach Hause, das Gefühl den Weg in die Wand. Was sollte ich tun?
Ich erhob mich und trat wieder näher an die Wand heran.
„Maurice“, flüsterte ich und vergoss eine einzelne Träne. „Wenn du nicht schon dort bist … dann fahr zur Hölle.“ Ich spuckte auf die Wand, drehte mich um und ging nach Hause.
© Daniela Rohr 2010