„Unsere eigene Baumspitze gefällt mir besser.“ Sabine stemmte ihre Arme in die Hüfte und warf ihrem Gatten einen missbilligenden Blick zu.
Karl-Heinz vermied den direkten Augenkontakt zu seiner Frau. Stattdessen prüfte er mit seinem über die Jahre verfeinerten Kennerblick die stachelige, silbrig glänzende Kugel auf der Spitze des Tannenbaums. „Ich finde sie eigentlich ganz nett. Mal was anderes.“ Er zuckte möglichst unbekümmert mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Frau zu. „Wir müssen ja nicht jedes Jahr den Stern von deiner Mutter oben drauf setzen, oder?“ Seinem bemühten Lächeln fügte er noch schnell ein charmantes „Schatzi“ hinzu. Doch statt des erhofften Na meinetwegen kassierte er von seiner Frau nur ein grimmiges Kopfschütteln.
„Mach das Ding ab.“ Sabine schnappte sich beiläufig den tanzenden Tannenbaum – ein plüschiges Figürchen, das die Hüften schwang, sich drehte und ‚Jingle Bell Rock‘ trällerte, wenn man daran vorbei schritt – und schlurfte durch die Küche Richtung Hausflur. „Ich stell schon mal das Kinder-Frühwarnsystem auf.“
Karl-Heinz schnaufte enttäuscht. Er hatte sich so gefreut beim Einkauf des Tannenbaums eine Baumspitze umsonst ergattert zu haben. Denn er liebte Gratisbeilagen. Sobald es irgendwas umsonst dazugab, konnte er nicht widerstehen. Gratis Kartoffelschäler beim Kauf von vier Sack Kartoffeln? Dann gab es eben eine Woche lang selbstgemachte Pommes, Bratkartoffeln, Backkartoffeln, Kartoffelsalat, Kartoffelklöße, Salzkartoffeln und Kartoffelpüree.
Sabine jedoch stemmte jedes Mal ihre Arme in die Hüfte und schüttelte wortlos mit dem Kopf, wenn er wieder irgendwelchen Schrott angeschleppt hatte. Der billige Kartoffelschäler war längst in die Mülltonne gewandert, zusammen mit all den anderen Gratisbeilagen. Karl-Heinz bemerkte das ohnehin nicht. Denn die Begeisterung für seine neueste Errungenschaft hielt in der Regel nicht länger als eine Woche. Doch jetzt – frisch vom Feld – sprühte er noch voller Begeisterung für sein aktuelles Schnäppchen.
„Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock“, ertönte plötzlich Bobby Helms Singsang aus dem Hausflur. Karl-Heinz mochte das Lied nicht. Aber Sabine war ein absoluter Fan. Also befand er sich in der Minderheit. Verärgert schlurfte er zu seinem stummen – dafür beachtenswert großen – Tannenbaum, stellte die kleine Trittleiter davor und stieg auf die oberste Stufe. Die Tanne ragte bis knapp unter die Decke hinauf und Karl-Heinz zählte nicht zu den Größten seiner Art. Deswegen stellte er sich auf die Zehenspitzen, streckte seinen Arm in die Höhe und griff nach der stacheligen Kugel, die sich erstaunlich weich anfühlte und wie ein glitschiges Stück Seife aus seinen Fingern glitt. Plötzlich spürte er, wie ihm die Leiter unter den Füßen wegriss. Er taumelte erschrocken und versuchte sich an den Verästelungen des Baumes festzuhalten. Doch er griff daneben, verlor den Halt und stürzte mit einem lauten „AAAHHH!!!“ zu Boden. „Scheiße!“
„Karl-Heinz! Wirst du wohl!“, brüllte Sabine aus der Küche. „Die Kinder könnten dich hören!“
„Ja, mir geht’s gut, Schatzi! Danke der Nachfrage!“, brummte er angefressen und rappelte sich auf. Der Tannenbaum raschelte kurz mit den Ästen und Karl-Heinz blickte erschrocken hinüber. Ob er bei seinem Sturz einen Zweig abgebrochen hatte? Besorgt umrundete er die stattliche Tanne und prüfte jeden einzelnen Ast. Es schien alles in Ordnung – sogar sehr in Ordnung. Nicht eine einzige Nadel hatte er mit sich gerissen. Erstaunlich, dachte er. Das ist mal Qualität!
Bobby Helms ‚Jingle Bell Rock‘ verstummte wieder und schaffte Platz für Sabines klirrende Geräuschkulisse aus der Küche. Saftiger Bratenduft zog ins Wohnzimmer hinüber und ließ Karl-Heinz für einen Moment genussvoll erstarren. Er stellte die Trittleiter wieder zurecht und kletterte erneut hinauf. „Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock …“
„Sabine?“
Die schlurfenden Schritte seiner Frau hechteten in den Flur. „Nur die Katze!“, rief sie und Karl-Heinz nickte beruhigt. Er widmete sich wieder dem Baum und griff nach der Kugel, als ihm plötzlich ein Zweig seitlich durchs Gesicht klatschte. Karl-Heinz – von der Schelte des Baumes so erschrocken, dass er einen Schritt zurücktrat – erkannte zu spät, dass pure Luft sein Gewicht nicht tragen würde, und stürzte rücklings von der Trittleiter. Diesmal jedoch verkniff er sich den Wutschrei und starrte nur verdattert auf den sperrigen Baum.
„Was schaffst du denn?“ Sabine stand in der Tür und musterte ihren Mann mit hochgezogenen Augenbrauen, während die getigerte Katze um ihre Beine strich. „Hast du etwa schon getrunken?“
„Was? … Nein!“
„Soll ich den Baum schmücken?“
„Nein, nein. Ich mach das schon. Nur –„
„Nur was?“
„Die Baumspitze hängt irgendwie fest.“
Sabine beäugte ihn mit ihrem Verarschen-kann-ich-mich-selber-aber-ist-schon-okay-mein-Schatz-Blick, seufzte resigniert und stapfte zurück in die Küche, dicht gefolgt von ihrer Miez. „Dann häng aber bitte das Stanniol-Lametta auf und nicht das billige Kunststoffzeug!“
Karl-Heinz erhob sich mühsam und blickte misstrauisch zum Baum hinüber. Er hätte schwören können, dass da eben jemand gekichert hatte. Ob die Kinder die Treppe hinunter geschlichen waren? Immerhin grenzte die Wohnzimmerwand an den Flur und der Baum stand genau vor der Tür zur Treppe, um zu verhindern, dass die kleinen Bälger einen heimlichen Blick riskierten. Denn auf diese Weise mussten sie erst durch die Küche und an Sabine vorbei, die sie dank des tanzenden Tannenbaums schon vom Flur aus hören würde. Vorsichtshalber verschloss er die Tür zur Küche. Sicher ist sicher, dachte er und atmete entschlossen durch.
„Dann mal los.“ Eifrig durchsuchte er den Karton mit Weihnachtsdekoration und entschied sich für ein paar rote Christbaumkugeln – die kostbaren aus Glas, natürlich von Sabines Mutter. Er hängte die ersten vier Kugeln an die Äste, betrachtete zufrieden die symmetrische Anordnung, drehte sich um und fuhr erschrocken zusammen, als hinter ihm das unverwechselbare Klirren zersplitternden Glases erklang.
Drei von vier Kugeln lagen zerbrochen auf dem Boden. Kaputt. Einfach vom Baum gefallen. Fassungslos starrte er auf den Scherbenhaufen. „Das gibt’s doch nicht,“ grummelte er im Flüsterton und schielte besorgt Richtung Küchentür. Doch Sabine hatte wohl nichts gehört. Die wertvollen Christbaumkugeln ihrer Mutter … Nicht, dass sie das noch persönlich nahm.
Karl-Heinz beugte sich hektisch zu den Glasscherben hinunter und sammelte die Einzelteile auf, als er aus den Augenwinkeln eine flüchtige Bewegung registrierte. Einer der Äste entledigte sich gerade der letzten Glaskugel. Doch Karl-Heinz reagierte schnell genug und fing sie auf. Allerdings taumelte er vor Schreck zurück und landete schon wieder auf seinem Hinterteil. Hatte sich der Baum etwa bewegt? Also richtig bewegt? Ganz von allein? Ängstlich blickte er die grünen Tannennadeln hinauf, als ihn plötzlich etwas in die Seite schubste. Er zuckte zusammen und blickte über die Schulter Richtung Boden.
„Miau!“, brüllte ihn die Katze fordernd an und stupste ihm erneut mit dem Kopf in die Seite. Karl-Heinz atmete erleichtert aus und strich dem hungrigen Quälgeist übers weiche Fell.
„Na komm her, Miez.“ Schwerfälliger als ihm lieb war stand er auf, hob die Katze hoch und trug sie Richtung Küche. Die unversehrte Kugel legte er vorsichtshalber auf dem Esstisch ab. Schwungvoll öffnete er die Tür, warf die Katze behutsam in die Küche, sog flüchtig den deftigen Geruch des Gänsebratens in die Nase und zog sich hastig wieder zurück. Die Tür war schnell genug zugezogen, bevor Miez zurück ins Wohnzimmer stürmen konnte. „Fütter mal die Katze!“, rief Karl-Heinz durch die geschlossene Tür und fügte seinem fordernden Ton noch ein freundliches „Bitte“ hinzu. Dicht gefolgt von einem: „Danke Schatz!“
Er schnaufte erschöpft, rieb sich den schmerzenden Rücken und blickte auf die unversehrte Kugel, die er auf dem Tisch abgelegt hatte. Heute war definitiv nicht sein Tag.
Die Glaskugel legte er zurück in die Verpackung, die Zerbrochenen ebenfalls und schloss sorgsam den Deckel des kleinen Kartons. Mit ein wenig Glück würde seine Frau das erst nächstes Jahr bemerken und die Schuld einer schlechten Lagerung zusprechen, die sie hoffentlich nicht ihm in die Schuhe schob. Jetzt mussten halt die roten Plastikkugeln herhalten. Ja, sie waren nur halb so schön, aber besser auf Nummer sicher gehen, sagte er sich. Er hängte die Kugeln an den Baum und knotete sie richtig fest. „Hier rutscht jetzt nichts mehr herunter“, murmelte er selbstzufrieden und schnappte sich das Lametta.
„Brauchst du noch lange, Schatz?“, rief Sabine aus der Küche. „Die Gans ist gleich fertig!“
„Nur noch die Kerzen!“, log er hastig, verteilte schnurstracks das Lametta auf den Ästen und griff sich eine Handvoll Kerzenhalter, als plötzlich jemand nieste. In Erwartung seine Frau oder eines der Kinder im Raum zu sehen, blickte er von den Kerzenhaltern im Karton auf. Doch es war niemand da. Und das Frühwarnsystem aus dem Flur hatte auch nicht Alarm geschlagen. Stattdessen lag ein Teil des Lamettas auf dem Boden.
Karl-Heinz schnaubte genervt, befestigte schnell ein Dutzend Kerzenhalter und warf das Lametta wieder zurück auf den Baum. Lautes Kindergepolter stürzte die Treppe hinunter. „Es ist soweit! Es ist soweit!“, rief Tobias vom Flur aus und der zwei Jahre jüngere Kevin folgte ihm jubelnd in die Küche.
„Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock …“, tönte das Frühwarnsystem. Völlig überflüssig, stellte Karl-Heinz fest.
„Mama, Mama!“, brüllte Tobias. „Es ist soweit! Dürfen wir rein? Dürfen wir?“
„Dürfen wir?“, imitierte Kevin seinen größeren Bruder und dann quengelten sie im Chor: „Dürfen wir? Dürfen wir? Dürfen wir?“
Karl-Heinz hechtete zurück zum Karton, packte die Kerzen aus und stellte eine nach der anderen in die Halter, während seine Frau die beiden Jungs beruhigte: „Ihr müsst euch noch ein bisschen gedulden. Das Christkind ist noch nicht ganz fertig.“
„Du meinst, Papa ist noch nicht fertig“, entgegnete der sechsjährige Kevin.
„Äh.“ Kurzes Schweigen aus der Küche. „Holt doch schon mal eure Schwester.“ Die beiden Jungs bekundeten ihre Enttäuschung durch kollektives Stöhnen, gefolgt von erneutem Getrampel – diesmal die Treppe hinauf und deutlich bockiger. „Aber rennt nicht so!“, rief sie den Kindern noch hinterher.
„Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock …“
Karl-Heinz steckte derweil die letzte Kerze in die Halterung und trat einen Schritt zurück. Er betrachtete zufrieden den Christbaum. Ja, er war wirklich schön. Ein prachtvolles Exemplar. Keine braunen Stellen, perfekt symmetrisch und spärlich aber ausreichend geschmückt. Jetzt musste er nur noch die Kerzen anzünden. Er kramte ein Feuerzeug aus der Hosentasche, als plötzlich seine Frau in der Tür stand:
„Bist du soweit?“
„Fast fertig.“
Sabine beäugte den Baum und entdeckte sofort die billigen Plastikkugeln. „Warum hast du nicht die Glaskugeln von meiner Mutter genommen?“
„Ähh …“
Die Kinder polterten wieder die Treppe hinunter. „Ihr sollt nicht so rennen!“, schrie sie streng und schloss hektisch die Tür, öffnete sie noch mal einen Spalt, „Räum den Karton noch weg!“ und verschwand wieder in der Küche.
Karl-Heinz tat wie ihm befohlen und zündete anschließend die Kerzen an. Jetzt war es endlich soweit. Er warf einen letzten Blick auf sein Meisterwerk und trat an die Küchentür, um dreimal mit dem Glöckchen zu läuten. Er hörte die Anspannung der Jungs auf der anderen Seite der Tür. Und als das Glöckchen zum dritten Mal erklang, kurz bevor Tobias und Kevin ins Wohnzimmer stürmten, spürte er einen leichten Lufthauch. Das Zimmer verdunkelte sich ein wenig und Karl-Heinz blickte verwundert zum Christbaum hinüber.
„Och Papa! Das ist doch voll doof!“ Kevin und Tobias starrten enttäuscht auf den Weihnachtsbaum. Und Sabine, mit Baby im Arm, warf Karl-Heinz ihren vorwurfsvollen Das-nächste-Mal-mach-ich-es-wieder-selber-Blick zu. Die Kerzen waren erloschen.
Karl-Heinz lief rot an vor Scham. „Muss ein Luftzug gewesen sein“, stammelte er und wich den Blicken seiner Familie aus. „Das haben wir gleich.“ Er quetschte sich an den Jungs vorbei und zündete die Kerzen erneut an. Endlich. Strahlende Kinderaugen. Selbst das Baby blickte fasziniert auf den Baum.
„Geschenke!“, rief der Älteste gierig und rannte auf die Päckchen zu, die am Fuße des Christbaumes standen.
„Nicht so schnell, Tobias“, ermahnte ihn seine Mutter. „Erstmal wird gesungen.“
„Oh bidde ned.“
„Wer hat das gesagt?“, fragte Sabine streng in die Runde. Doch keines der Kinder fühlte sich ertappt. „Karl-Heinz?“
„Was? Ich? Nein!“ Er warf dem Baum einen misstrauischen Blick zu und setzte als Beweis seiner Unschuld zum Singen an: „Stiiiihilleee Naaaaacht.“ Sabine und die beiden Jungs stimmten mit ein. Gesangstalent lag allerdings nicht in der Familie. „Heiiiiligeeee Naaaacht, aaa…“
„AHHH!!! Schnauze! Halded die Gusch! Des is jo ferschderlisch!“
Karl-Heinz machte einen Satz zurück, die beiden Jungs rissen entsetzt die Augen auf und Sabine fiel die Kinnlade herunter. Mit einem Mal waren sie mucksmäuschenstill. Die gesamte Familie starrte auf die Spitze des Weihnachtsbaums. Das, was Karl-Heinz und Sabine ursprünglich für eine Baumspitze gehalten hatten, entpuppte sich nun als riesiges Glubschauge, das nervös vor sich hin blinzelte. Die Äste des Baumes wirbelten panisch umher und löschten die brennenden Kerzen. „Hadden ehr geblaant gehabt, misch absefaggele oder was soll der Kees?“, fluchte der Baum und löschte die letzte Kerze, indem er einen seiner Äste wie eine Hand verbog und sorgsam die Flamme ausdrückte. „Schlimm genuuch, dass mer mir die Fieß abgesääschd had. Un dann aach noch des uusääglische bleihaldische Zeisch do.“ Er zupfte sich das Lametta von den Zweigen und warf es dem jüngeren Sohn über den Kopf. „Isch han ’e Bleiallergie, verdammt noch emol!“
Sabine griff instinktiv nach ihren beiden Söhnen und zog sie möglichst weit von dem schimpfenden Baum fort. Karl-Heinz hingegen starrte nur verdattert auf die zuckenden Äste. „Du kannst … sprechen?“
Der Baum strich sich mit den Zweigen über sein Auge, das stark gerötet wirkte – auch wenn Karl-Heinz sich nicht sicher war, ob das vielleicht der Normalzustand sein könnte.
„Nadeerlisch kann isch redde, ihr Dollbohrer!“, schrie der Baum erbost und versuchte, die Plastikkugeln von den Zweigen zu friemeln. Doch es gelang ihm nicht. „Mach des scheiß Zeisch do runner! Is jo schee, wenns eisch Spass machd, eisch selwer mid so nem Krembel se behänge. Awwer fer misch is des ’e Zumudung.“ Er beugte sich Karl-Heinz entgegen und hielt ihm vorwurfsvoll einen Zweig mit Plastikkugeln vors Gesicht. „Mach des endlisch runner, du Madschkardoffel!“
Verwirrt und verängstigt gehorchte er sofort und knubbelte zittrig die Kugeln von den Ästen. Als er fertig war, trat er ehrfürchtig ein paar Schritte zurück. „Wer – oder was – bist du?“
„Isch bin de Schorsch.“
„Schorsch?“ Sabine gluckste amüsiert, mit einem Hauch von Entsetzen. „Du heißt Schorsch?“
„Hasch de was degeje?“, blaffte der Baum zurück. „Bleedi Nuss.“
Sabine verstummte. Stattdessen rannte Tobias nach vorne und trat Schorsch gegen den Baumstamm. Bevor dieser sich wehren konnte, hechtete der Junge wieder zurück und versteckte sich hinter seiner Mutter.
„Saach emol!“, schrie Schorsch erregt. „Willsche uffmugge? Du dreggischer Gifdzwersch!“
„Niemand beleidigt meine Mama!“
Kevin zupfte derweil seine Mutter verschüchtert am Ärmel und flüsterte ihr zu: „Warum spricht der Baum rheinhessisch?“
„Rhoihessisch haaßt des. Un was fern Geworschdel sabbelt ihr do?“
„Deutsch!“, brüllte Tobias und verschränkte die Arme.
„Do soll noch aaner dorschbligge. Zwo Spraache fer aanen pobelische Planet? Mer kanns aach iwwertreiwe.“
„Eigentlich“, begann Karl-Heinz zögerlich. „Eigentlich ist Rheinhessisch nur ein Dialekt. Es gibt noch viel mehr Sprachen.“
„Im ernschd jetz?“ Der Tannenbaum starrte verdattert von einem zum anderen. „Un wie duhn er dann midenanner redde?“
Eine berechtigte Frage, stellte Karl-Heinz fest. Doch bevor er antworten konnte, staunte sein ältester Sohn Tobias: „Bist du ein Außerirdischer?“
„Des haaßt Tannsid!“, blökte der Baum pikiert.
„Sie kommen also nicht von der Erde?“, bohrte Sabine vorsichtig nach.
„Aach schon g’mergd.“
Kevin trat trotzig einen Schritt nach vorn. „Und warum siehst du dann aus wie ein Tannenbaum?“
„Un warum hann eier Bääm kaa Guggelscher?“ Schorsch verschränkte seine Zweige wie Arme und starrte den Jungen herausfordernd an. „Des werd mer se bleed. Isch mach misch mol ford. Alla.“ Schorsch schlüpfte mit seinen Wurzeln – die offenbar nachgewachsen waren – aus dem Christbaumständer heraus und wackelte auf die kleine Familie zu, die sich schnurstracks in eine andere Ecke des Raumes verkrümelte. Der Baum quetschte sich durch die Küchentür und raschelte verärgert mit seinen Ästen, als Miez ihn anfauchte.
„Vegrimmel disch, du Frischdsche!“, plärrte Schorsch zurück und stieß versehentlich das gestapelte Geschirr vom Tresen, woraufhin Miez laut aufjaulte und davonrannte.
„Jetzt haben wir ja gar keinen Weihnachtsbaum mehr“, wimmerte Kevin enttäuscht.
„Des is mir doch Worschd!“, rief Schorsch und verschwand um die Ecke.
Karl-Heinz strich seinem Sohn tröstend über den Kopf. „Wir können ja stattdessen den tanzenden …“
Aus dem Flur ertönte wieder: „Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock …“
Karl-Heinz zuckte leicht zusammen. Sabine umklammerte ihr Baby. Es erschien ungleich gruseliger, den Tannsid nicht mehr zu sehen. Aber gleich würde der Baum die Tür öffnen und aus ihrem Haus verschwinden. Doch das ersehnte Zuschlagen der Eingangstür kam einfach nicht. Karl-Heinz warf seiner Frau einen prüfenden Blick zu. Eigentlich verspürte er keine große Lust, nachzusehen, was da los war. Doch er war nunmal der Mann im Hause – zumindest in Momenten wie diesen. „Ich sehe mal nach.“
„Sei vorsichtig.“ Sabine zog ihn an sich heran und küsste ihn liebevoll – so liebevoll wie schon lange nicht mehr. Jetzt wollte Karl-Heinz sie noch weniger verlassen. Doch andererseits weckte es seinen männlichen Urinstinkt. Er musste die Familie schützen. Bedächtig schritt er Richtung Küche – die Melodie von ‚Jingle Bell Rock‘ dröhnte in seinen Ohren und nahm einen schaurigen Unterton an, den er sich natürlich nur einbildete. Seine Hände zitterten und seine Knie wurden von Schritt zu Schritt weicher. In Gedanken betete er, dass der sogenannte Tannsid einfach zu unhöflich war, um die Tür hinter sich zu schließen – oder er sich vom Flur aus auf sein Raumschiff zurück gebeamt hatte, wie sie das in diesen Science-Fiction Filmen immer taten. Vorsichtig schritt er in die Küche und riskierte einen Blick um die Ecke.
Schorsch war noch da – sein glubschiges Auge unentwegt auf den tanzenden Tannenbaum gerichtet. Wie hypnotisiert starrte der Baum auf die hüftschwingende Weihnachtsdekoration und imitierte die ulkigen Bewegungen. Es war ja schon absurd genug, einen sprechenden Baum im Zimmer zu haben, der gestikulierte wie ein Mensch und redete wie ein alteingesessener Rheinhesse. Aber ein tanzender Zweieinhalbmeter Baum war nun die absolute Krönung. Karl-Heinz beobachtete das seltsame Treiben ein paar Sekunden, beugte sich schließlich ein wenig zurück, bis er seine Familie wieder im Blick hatte, und winkte sie amüsiert herbei.
Sabine und die Kinder schlichen zu ihm herüber und warfen ebenfalls einen Blick auf den tanzenden Baum. Die Kinder grinsten belustigt und das Baby lachte fröhlich. Doch dann erstarb Jingel Bell Rock und sowohl die kleine künstliche Tanne als auch das große lebendige Ungetüm beendeten ihre Tanzeinlage. Schorsch blickte leicht beschämt zur Familie hinüber, die ihn amüsiert anstarrte. „Derf isch den Klaane mitnemme?“
Karl-Heinz und Sabine blickten sich überrascht an. Schorsch wollte den tanzenden Tannenbaum haben? Aber wieso? War es das Lied? Oder erinnerte ihn die Figur an seine Artgenossen? Tatsache war, Schorsch wirkte – obgleich man einem Tannenbaum nur schwer seine Gefühlsregungen ansehen konnte – irgendwie geknickt. Vermutlich lag diese Wirkung an dem großen Glubschauge, das erwartungsvoll von Sabine zu Karl-Heinz blickte, wie ein flehendes Kind im Spielzeugladen, das unbedingt die neueste Puppe haben möchte. Zudem sackten mit jeder Sekunde, die Schorsch auf eine Antwort wartete seine Äste ein weiteres Stück in sich zusammen. Sabine entwich ein kaum hörbares, mitleidiges „Ohh“.
Doch Karl-Heinz nahm die Mitleidstour des Tannsiden gar nicht wahr. Stattdessen musterte er den tanzenden Tannenbaum – ein Ding, das er schon immer gehasst hatte. Und dennoch: Nach all den Beschimpfungen, die Schorsch über die kleine Familie geschüttet hatte … warum sollte er diesem Ungetüm etwas schenken? „Warum sollten wir dir etwas schenken?“, formulierte er seine Gedanken. „Du hast unser Weihnachtsfest ruiniert!“
Schorsch ließ nun vollends seine Äste sinken und der Stamm krümmte sich zu einem deprimierten Buckel. „Des duhd mer jo eschd Leid, awwer des Ding is … mer Tannside danse immer, wenn mer frehlisch sin. Des is aasteggend. Un dann danse alle mid.“ Für einen Sekundenbruchteil glänzte sein Auge voller Freude an diese Erinnerung. „Des war immer so schee. Des Danse duhd misch an Dehaam erinnere.“
Das Baby begann, zu wimmern und zu knatschen. Sabine wiegte die Kleine in ihren Armen. Die Traurigkeit von Schorsch färbte scheinbar auf sie ab. Und ihr Mann schien es einfach nicht zu begreifen. „Karl-Heinz“, flüsterte Sabine ihm zu. „Jetzt gib ihm schon den tanzenden Baum. Es ist doch Weihnachten. Und der arme Kerl hat Heimweh.“
Heimweh? Karl-Heinz warf Sabine seinen Das-ist-doch-lächerlich-Blick zu und kassierte dafür ihren Überleg-dir-jetzt-ganz-genau-was-du-tust-mein-Freundchen-oder-du-kannst-nachher-auf-der-Couch-schlafen-Blick. Ein überzeugendes Argument. Karl-Heinz musterte das Häufchen Elend, das einst ein stolzer Tannenbaum war. Natürlich! Seine Frau hatte recht. Schorsch vermisste seine Heimat. Jetzt erkannte auch er die Trauer im Auge ihres Besuchers. Wieso hatte er das nicht schon vorher gesehen? Und warum musste seine Frau auch immer recht behalten?
Karl-Heinz trat ein paar Schritte nach vorn und der kleine Baum begann direkt wieder zu trällern und zu tanzen. Schorsch richtete sich blitzartig auf und stimmte sofort mit ein. Die vorige Trauer schien wie weggeblasen. Karl-Heinz wusste nun, was zu tun war. Er griff nach der Weihnachtsdekoration, schaltete sie kurz aus und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Es gehört Ihnen.“ Doch anstatt Schorsch die plüschige Figur zu überreichen, deutete er einladend in die Wohnung. „Aber möchten Sie uns vielleicht noch etwas Gesellschaft leisten?“
Schorsch prüfte Karl-Heinz’ Miene mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Misstrauen. Doch er antwortete nicht. Scheinbar überlegte er noch, ob er dieses Angebot wirklich annehmen sollte.
„Wir würden uns sehr freuen“, fügte Sabine hastig hinzu und alle Kinderaugen strahlten vor Begeisterung.
„Au ja! Bitte, bitte!“, rief Tobias und Kevin stimmte mit ein. Das Baby lächelte wieder und Schorsch gab sich schließlich einen Ruck.
„Alla ford, warum ned.“
Gemeinsam kehrten sie ins Wohnzimmer zurück und Karl-Heinz schaltete den tanzenden Weihnachtsbaum wieder ein. Nie zuvor hatte die Familie an Heiligabend getanzt. Doch dem fröhlich hüftschwingenden Tannsid im Raum musste man sich einfach anschließen. Es wurde das schönste Weihnachtsfest, das sie je gefeiert hatten und das Tanzen entwickelte sich zu ihrer ganz persönlichen Tradition.
© Daniela Rohr 2013