„Springst du dann auch?“
Jana blickte verstört zu dem jungen Mann, der rechts von ihr an der Brüstung stand. Er musste in ihrem Alter sein – also irgendwo zwischen fünfzehn und dreißig Jahren, wenn man die auf ihr Alter bezogenen Schätzungen des letzten Jahres als Maßstab nahm. Da Jana aussah wie fünfzehn, aber redete wie dreißig, konnte das leicht passieren. Mit Sicherheit war die Dreißig deutlich näher, aber das spielte jetzt überhaupt keine Rolle mehr. Jana sortierte ihre Gedanken um eine passende Antwort auf die Frage des fremden jungen Mannes zu finden. Sie blickte ihn verwirrt an.
„Wenn es soweit ist?“ Die ungewollte Gegenfrage zeugte von Janas Unentschlossenheit – obgleich es das Einfachste auf der Welt gewesen wäre, einfach Ja oder Nein zu sagen.
„Ja“, sagte der junge Mann. „Es sei denn, du bevorzugst einen verfrühten Abgang.“ Er durchbohrte sie mit seinen durchdringenden blauen Augen, als könnte er direkt in ihre Seele blicken. Jana bekam Gänsehaut. „Weißt du“, fuhr er fort. „wenn man in der Luft ist, dann wird man einfach weggeblasen. Man schwebt einfach davon.“ Eine dramatisch passende Geste seinerseits wäre ein Blick zum Sternenhimmel gewesen. Aber der junge Mann ließ lediglich seine Finger – wie Äste im Wind – durch die Luft schweifen. Dann blickte er sich um.
Auf der gesamten Brücke standen hunderte Menschen dicht gedrängt zu beiden Seiten an der Brüstung und starrten entweder leeren Blickes gerade aus oder deprimiert auf ihre Füße. Die meisten umklammerten verzweifelt ihre Schnapsflaschen und vergaßen aufgrund der allgemeinen Regungslosigkeit, daran zu trinken. Die Kettenraucher – am heutigen Tage wurde jeder Raucher zum Kettenraucher – erfrischten die Stimmung mit den nötigsten Bewegungen, die das Rauchen einer Zigarette erforderte. Die erbärmliche Partylaune der erstarrten Menschenmenge glich von weitem betrachtet einer Reihe depressiver Schaufensterpuppen. Doch aus der Nähe konnte man sehen, wie die Angst an den Menschen nagte und sie zum Zittern brachte. Der einzige, der dieser Weltuntergangsstimmung scheinbar nicht verfallen war, stand direkt neben Jana und blickte sie nun wieder an.
„Ich bin Tobias“, sagte er freundlich und reichte ihr schwungvoll die Hand. Jana ergriff sie zögerlich und zwang sich ein Lächeln auf.
„Jana.“
„Sehr erfreut.“ Das schien er wirklich zu sein. „Ich finde die Höflichkeit gebietet es, den Menschen zu kennen, der neben einem stirbt. Nicht wahr? Walter hier links mir …“, Tobias zeigte nach links, „Walter will nicht reden. Scheinbar bedrückt ihn die ganze Situation ein wenig. Keine Ahnung. Jedenfalls … schön, dich gekannt zu haben, Jana.“ Er atmete tief ein, bevor er mit seinem Monolog fortfuhr.
„Ob das unter gläubigen Christen noch als Selbstmord zählt? Ich bin mir da ja nicht so sicher. Aber wenn, dann wäre es ja eigentlich blöd, so kurz vor dem Ende noch eine Freifahrt in die Hölle zu ergattern.“ Er lachte kurz, blickte sie erneut an und verstummte.
Jana standen die Tränen in den Augen. Was nicht über die Backen kullerte, tropfte hemmungslos aus der Nase. Und die Wimperntusche, die inzwischen schon in den Mundwinkeln hing, bezeugte, dass Jana heute nicht zum ersten Mal weinte. Sie war keine gläubige Christin. Aber die Vorstellung von einer Hölle erzeugte in ihr das Bauchschmerzen verursachende Gefühl, dass man Angst nannte.
„Du“, sagte er gefühlvoll und strich ihr vorsichtig mit der Hand über den Oberarm, „es ist doch nur der Weltuntergang.“ Er lächelte kurz und zwinkerte ihr zu. Jana reagierte darauf mit einem flüchtigen Zucken ihrer Wange, das man fast mit dem Anflug eines Lächelns hätte verwechseln können.
„Ich meine“, fuhr er fort, „sieh es doch mal so: Jeder muss irgendwann einmal sterben. Aber zusammen mit der gesamten Menschheit unterzugehen, … das ist doch mal was anderes.“
„Ach ja?“, erwiderte sie leicht patzig. „Wieso sollte das etwas anderes sein? Nur weil wir alle auf einen Schlag tot sind?“ Ihr Blick wanderte lethargisch von ihm auf das Geländer der Brücke. „Das ist doch schrecklich, wenn niemand um dich trauert. Wenn es niemanden mehr gibt, der um dich trauern kann.“ Sie atmete tief ein und seufzte ausgiebig. „Ich will mich nicht umbringen, weil die Welt gleich untergeht. Ich will mich umbringen, weil ich mit meinem Leben einfach nicht klar komme. Ich spiele schon seit Monaten mit diesem Gedanken. Dass ich hier auf dieser Brücke stehe, hat rein gar nichts mit dem Weltuntergang zu tun! “
Tobias musterte sie verwirrt.
„Aber warum hast du dich dann nicht schon vorher umgebracht? Ich meine – nicht, dass ich dich dazu ermuntern will, um Gottes willen, nein! – aber, wenn du willst, dass es jemanden gibt, der um dich trauert … warum hast du es dann nicht schon viel früher getan?“
Jana sah zu ihm hoch und brach erneut in Tränen aus.
„Ich wollte meinen Eltern nicht die letzten Tage ihres Lebens verderben.“
„Hm. Ja, das klingt einleuchtend. Darf ich fragen, was deine Eltern heute Nacht so treiben?“ Jana starrte ihn traurig an. Sie liebte ihre Eltern. Denn ihre Eltern waren immer für sie da – die einzige Konstante in Janas Leben. Sie konnte es nicht ertragen, mit ansehen zu müssen, wie ihre Eltern starben, oder dass ihre Eltern sahen, wie sie stirbt.
„Meine Eltern … sie schauen sich den Weltuntergang im Fernsehen an.“ Tobias lachte kurz auf, doch dann merkte er, dass es kein Witz war. Jana blickte zu Boden: „Meine Eltern finden es erträglicher, wenn sie den Impact in Form eines Hollywood-Katastrophen-Filmes sehen. Dann wäre es wenigstens schön geschnitten.“
Tobias nickte mit abwesendem Blick.
„Ja. … Das klingt auch … irgendwie … ja, einleuchtend.“ Jana und Tobias wandten sich voneinander ab und reihten sich in die Gruppe der Menschen ein, die apathisch auf den langen Flussarm starrten. Jana riskierte einen vorsichtigen Blick nach unten.
„Ob einem das Wasser wohl entgegen kommt, wenn man springt?“
Tobias sah sie verwundert an und starrte dann auch in den Abgrund.
„Vielleicht. Wenn man genau den Moment erwischt, in dem der Meteorit die Erde zerreißt … vielleicht.“ Er blickte nachdenklich zu Jana. „Aber ich fürchte es ist ziemlich schwer, den genauen Zeitpunkt zu erwischen. Noch dazu wird die Erde an sich vermutlich in irgendeiner Form weiter existieren. Daher bezweifle ich, dass einem der Boden persönlich entgegen kommt. Dazu muss man schon springen.“
„Warum sagst du immer man? Willst du nicht springen?“, fragte sie ihn, wobei sie ihre Enttäuschung darüber nur schwer verbergen konnte.
„Nein. Ich will um dich trauern. Auch wenn es nur wenige Sekunden sind.“ Jana sah sprachlos zu ihm auf und versank mit wohligem Gefühl im tiefen Blau seiner Augen. Das war mit Abstand das Schönste, was jemals jemand zu ihr gesagt hatte. „Aber eigentlich will ich den Weltuntergang sehen. Sich vorher umzubringen ist doch Verschwendung.“ Jana blickte beschämt zu Boden. Für eine Sekunde hatte sie tatsächlich geglaubt, dass dieser wildfremde Mann um sie trauern wolle. Doch jetzt handelte es sich ihrer Ansicht nach nur noch um einen bösen Scherz auf ihre Kosten. Allerdings nur ihrer Ansicht nach, denn Tobias führte etwas ganz anderes im Schilde.
„Der Weltuntergang. Was gibt es da denn schon zu sehen?“, fragte sie enttäuscht.
„Eines der größten kosmischen Ereignisse der letzten viereinhalb Millionen Jahre? Hm, lass mich nachdenken. Ich denke, … das könnte recht unterhaltsam werden. Meinst du nicht?“ Tobias grinste unverschämt, während irgendwo auf der Brücke eine der zu Schaufensterpuppen erstarrten Menschen zum Leben erwachte und wie von Sinnen zu kreischen begann. Kaum jemand kümmerte sich darum. Nur Jana blickte flüchtig in die Richtung der schreienden Frau und wandte sich dann wieder ihrem Gesprächspartner zu.
„Aber das ist doch fürchterlich. Die Welt geht unter! Wie … wie kann das unterhaltsam sein?“
Tobias hielt sich abwehrend die Hände vor die Brust.
„Augenblick mal, frag nicht mich. Frag deine Eltern oder besser … einen Filmwissenschaftler.“ Tobias drehte sich zu seinem Sterbepartner auf der linken Seite. „Du, Walter?“ Walter blickte ihn apathisch an. „Du hast doch bestimmt Filmwissenschaft studiert, oder?“ Walter blickte ihn irritiert an und wandte sich tonlos wieder ab. Tobias zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung, warum das unterhaltsam ist. Aber ich vermute einfach, dass es ein faszinierender Anblick sein könnte.“ Jana und Tobias sahen sich lange an. Keiner der beiden sagte etwas, als plötzlich die Kirchenglocken der Umgebung zu läuten begannen. Tobias wandte sich von ihr ab. Jana schreckte auf und verspürte eine einengende Atemnot, als würde man ihren Körper gerade in ein enges Korsett quetschen.
„Was würdest du tun, wenn du nur noch eine Minute zu leben hättest?“, hauchte sie ihre rhetorische Frage hervor. Tobias drehte sich wieder zu ihr um und fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. Im selben Moment sprang neben ihm der erste Mensch von der Brücke. Jana schnappte vor Schreck nach Luft. Tobias hingegen beachtete es nicht und konzentrierte sich ganz auf Jana, die verkrampft in die Menschenmenge starrte.
„Wenn wir schon bei rhetorischen Fragen sind“, begann Tobias. „Kennst du die hier schon? Wenn alle von der Brücke, springst du dann auch?“ Ihre Blicke streiften sich und blieben aneinander hängen. Doch Jana antwortete nicht. Dann wiederholte Tobias die Frage eindringlicher und starrte ihr mit festem Blick in die Augen. „Wenn alle von der Brücke springen. Springst du dann auch, Jana?“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. „Du willst dich umbringen, weil dein Leben keinen Sinn ergibt? Aus Protest? Aus Selbstzweifel? Weil du etwas Schreckliches erleben musstest und nicht damit klar kommst? Was es auch ist, Jana … es ergibt keinen Sinn mehr. Sieh dich um. Jeder will sich umbringen. Menschen, die vorher überhaupt keinen Grund dazu hatten, stürzen sich von der Brücke. Einfach so. Es ist vorbei. Das Leben endet hier und jetzt. Das ist klar. Aber so schlimm dein Leben auch gewesen sein mag, was spricht dagegen einen letzten Blick auf das Ende der Welt zu werfen? Was daran schön ist? Ich weiß es nicht. Aber die schrecklichsten Dinge im Leben können oftmals die Schönsten sein. Willst du, dass das Letzte, was du in deinem Leben siehst, der Fluss ist? Hast du den nicht schon tausendmal gesehen? Willst du nicht lieber ein einmaliges kosmisches Ereignis sehen, dass trotz seiner verheerenden Auswirkung auch irgendwie … ein atemberaubendes Spektakel ist?“
Jana starrte ihn mit großen Augen an.
„Warum willst du mich davon abhalten zu springen?“
„Weil ich – um auf deine rhetorische Frage zurück zu kommen – meine letzte Minute auf dieser Welt am liebsten damit verbringen würde, dich zu küssen.“ Jana blickte ihn ungläubig an. Doch diesmal machte er keine Witze. Er griff nach ihrem Nacken, zog sie an sich heran und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund. Hinter ihnen ertönten weiterhin die Glocken der umliegenden Dorfkirchen. Die Menschen um sie herum starrten auf ihre Uhren und sprangen einer nach dem anderen von der Brücke. Die meisten von ihnen wollten genau den Zeitpunkt abpassen, an dem der Asteroid die Erde zerschmetterte. Sie hofften darauf, genau den Moment zu erwischen, in dem die Erde in Milliarden von Einzelteilen zersprang. So, dass man den Fluss schon nicht mehr lebend erreichen würde.
Der Zeitpunkt des Aufschlags war von Wissenschaftlern der ganzen Welt exakt auf die Sekunde berechnet worden. Dass viele der Menschen zu früh sprangen, schien aber nicht daran zu liegen, dass sie es nicht aushalten konnten auf den passenden Moment zu warten. Anscheinend waren ihre Uhren einfach falsch gestellt – was sich durch ein erbostes Fluchen offenbarte, kurz bevor sie auf die Wasseroberfläche prallten. Jana musste unwillkürlich an Silvester denken, wo es den überpünktlichen Leuten auch nie schnell genug gehen konnte. Doch dann war es plötzlich wirklich soweit.
Drei.
Zwei.
Eins.
Die Glocken verstummten. Der Meteorit sollte jetzt in dieser Sekunde die Erdatmosphäre erreicht haben. Jana und Tobias blickten sich verliebt in die Augen und wandten ihren Blick schließlich – zum ersten Mal an diesem Tag – gen Himmel. Rechts und links von ihnen hüpften immer mehr Menschen munter von der Brücke. Jana und Tobias blickten zu dem riesigen Asteroiden auf, den sie eigentlich gar nicht sehen dürften – wenn die Nachrichtensprecher im Fernsehen, die ihre Informationen von hochintelligenten Wissenschaftlern erhalten hatten, Recht behalten wollten. Aber der Asteroid sah gar nicht ein, auf die Erde einzuschlagen und krachte trotzig in den besonders tief hängenden, gelb leuchtenden Vollmond – Halbmond – Eindrittelmond. … Exmond.
Jana und Tobias standen Händchen haltend auf der leeren Brücke und starrten ein wenig verblüfft auf den kaputten Trabanten. Tobias nickte anerkennend.
„Hm.“ Er blickte zu Jana und lächelte fröhlich. „Gehen wir zu dir?“
© Daniela Rohr 2009