Oliver war achtzehn Jahre alt, gutaussehend, rebellisch, überdurchschnittlich intelligent und gerade von Außerirdischen entführt worden. Zumindest erschien ihm dies als die logischste Erklärung für das Panoramafenster, das einen atemberaubenden Blick auf den Planeten Erde erlaubte. Er presste seine Stirn gegen die Glasfront, die sich über die gesamte Fläche der Wand erstreckte und genoss die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.Wie ein funkelnder Diamant erhob sie sich über den Planeten und ließ den Atlantischen Ozean in einem tiefen Blau erscheinen. Oliver schnappte nach Luft. Er hätte nie geglaubt, jemals diese Aussicht genießen zu dürfen.
Der L-förmige Raum, in dem er vor wenigen Minuten aufgewacht war, interessierte ihn nur noch am Rande. Er erinnerte Oliver an jene viel zu groß geratenen, dafür umso minimalistischer ausgestatteten Raumschiffkabinen diverser Science-Fiction-Filme. Scheinbar hatte man versucht, das Zimmer für menschliche Bedürfnisse anzupassen. Eine Anrichte aus weißem Plastik – bestückt mit einer Wasserkaraffe, drei Gläsern und einer prall gefüllten Obstschale – zierte eine der Seitenwände. Eine Eckcouch aus weißem Leder säumte einen quadratischen Glastisch.
Das sterile Gesamtambiente zeugte von der Zweckmäßigkeit eines Wartezimmers für Privatpatienten. Sogar die Spielecke war vorhanden – bestehend aus einer Ansammlung bunter Steinchen, die auf dem Tisch verstreut lagen. Lediglich die Toilette entzog sich diesem Vergleich. An der Wand aufgestellt wie der heilige Thron der Exkremente, fehlte ihr leider ein wichtiges Detail: ein Sichtschutz für das menschliche Schamgefühl.
Daher kreisten Olivers Gedanken – sofern sie sich dem Sonnenaufgang entziehen konnten – hauptsächlich um die Abwesenheit diverser Raumausstattungen: Nebensächlichkeiten wie eine Tür.
Angefüllt mit jenen existentiellen Fragen kümmerte es ihn wenig, dass er nicht der einzige Mensch in diesem Raum war. Ein Mann und eine Frau – beide noch in tiefen Schlaf versunken – drapierten die U-förmige Couch. Oliver hatte kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, sie zu wecken. Doch der Anblick des Weltraums und die hypnotisierende Stille fesselten ihn zu sehr. Da genoss er lieber noch die letzten ruhigen Minuten in trauter Einsamkeit.
Hans war zweiundvierzig Jahre alt, stattlich gebaut, humorvoll, überdurchschnittlich leichtfertig und gerade mit einem dröhnenden Kater in einem fremden Raum aufgewacht. Er blinzelte verstört, schmatzte den pelzigen Belag auf seiner Zunge weg und zog sich an der Sofakante hoch. Ein paar orientierungslose Seufzer später entdeckte er das Panoramafenster, rieb sich erst einmal die Augen, griff sich an seinen pochenden Schädel und beschloss, nie wieder einen Schluck Alkohol anzurühren. „Scheiße, wo bin ich?“ Er blickte zu der schmalen Gestalt, deren dunkle Umrisse sich vor dem Fenster abzeichneten. „Hey, du da! Sag mal: Arbeitest du hier?“
Oliver drehte sich um und musterte ihn irritiert. Er nutzte ein „Öhm“, um etwas Zeit zu schinden, bis er eine verständliche Erklärung in Gedanken zurechtgelegt hatte. Doch dann fiel sein Blick auf die junge Frau, die sich nun ebenfalls aufrappelte.
Nadine war dreißig Jahre alt, zierlich, neugierig, überdurchschnittlich misstrauisch und gerade auf der Suche nach ihrer Brille. Sie ertastete die Sehhilfe, setzte sie auf, nahm sie wieder ab, rieb sich die Augen, setzte sie erneut auf und ließ ihre Kinnlade herunterklappen. „Oh – mein – Gott.“ Sie sprang auf und torkelte zum Fenster. Fassungslos starrte sie hinaus, reckte ihren Kopf in alle Richtungen, über die sich die Glasfront erstreckte, überprüfte mit ihrem Zeigefinger die Existenz der Scheibe und atmete tief ein. „Das ist die Erde – wir sind im Weltraum – ich werd nicht mehr – wir sind im Weltraum – ist das krass!“ Sie strahlte Oliver an und dieser lächelte freundlich zurück. Doch als sie kurz darüber nachdachte, verging ihr das Grinsen. Sie beäugte Hans, der sich seit seinem Erwachen am Sofa festklammerte. „Die Frage ist aber – warum sind wir im Weltraum – was ist das hier – eine geheime Regierungsverschwörung – vielleicht – oder ein wissenschaftliches Experiment – was meint ihr?“
Die beiden Männer sahen sich verunsichert an. Doch dann lupfte Hans belustigt seine Augenbrauen, ließ die Sofakante los und erhob beschwingt das Wort: „Ich bin übrigens Hans.“
Nadine ignorierte die Hand, die er ihr freundlich entgegen streckte. „Das beantwortet nicht meine Frage“, blaffte sie ihn an.
Hans zog seine Hand wieder zurück und blickte erwartungsvoll zu seinem Geschlechtsgenossen, der etwas überrumpelt schien.
„Ähm. Oliver.“
Ein genervtes Seufzen aus der weiblichen Ecke: „Nadine – wenn ihr das unbedingt wissen müsst – aber wichtiger ist doch, herauszufinden, was wir hier machen – wo wir hier sind –“
„Im Weltraum.“
„Wo wir wirklich sind“, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.
„Im Weltraum?“ Oliver verstand nicht recht, worauf sie hinaus wollte und verfeinerte seine Aussage: „In einem Raumschiff, das sich in der Erdumlaufbahn befindet.“ Er verwies auf die atemberaubende Aussicht, die eigentlich keinen Zweifel an ihrem Aufenthalt zuließ – dachte er zumindest.
„Bist du dir da sicher – ja – ich wäre mir da nicht so sicher.“ Aus Nadines durchdringenden Augen blitzte ein Fünkchen Wahnsinn hervor.
Oliver nahm sicherheitshalber einen Schritt Abstand. „Ach nein?“
„Das könnte genauso gut ein Monitor sein – nicht wahr – ein riesiger Monitor, der den Anschein erwecken soll, dass er ein Fenster ist.“
Schweigen erfüllte den Raum. Nadine schwieg, um ihre Aussage wirken zu lassen. Hans schwieg, weil er gedanklich abwog, welche Theorie ihn weniger beunruhigte und ob er es riskieren sollte, ein Glas Wasser gegen seinen schrecklichen Durst zu trinken. Oliver schwieg aufgrund der unfassbaren Idiotie, die ihm mit geballter Überzeugung entgegen geworfen wurde und auf die er einfach nicht vorbereitet war.
Er musterte das Fenster hinter sich, das eindeutig ein Fenster war, als Nadine ihre bizarre Theorie mit dramatischen Gesten in einem anschwellenden Monolog auf die Spitze trieb: „Ich glaube – dass wir gar nicht im Weltall sind – sondern – dass das hier eine abgekartete Regierungsverschwörung ist, bei der x-beliebige Menschen zusammen in einen Raum gequetscht werden, um deren Verhalten zu studieren – und zwar das Verhalten, wenn man sich plötzlich im Weltraum befindet – und um uns das glauben zu machen, hat man diesen Monitor da eingebaut – damit wir denken, wir wären im Weltraum und von Außerirdischen entführt worden – macht Sinn, oder?“
Hans nickte stumm, während er die Anrichte fixierte, und Oliver hoffte beschämt, dass sie recht behielt. Denn sollte sich seine eigene Theorie der Entführung durch Außerirdische bewahrheiten – was seiner Ansicht nach immer noch die einzig logische Erklärung darstellte –, würden diese sich nun vermutlich voller Entsetzen an den Kopf greifen.
Tatsächlich entsprach die Reaktion der extraterrestrischen Beobachter eher einem schallenden Gelächter.
„Und mit Regierung meinst du Angela Merkel und Gefolge, verstehe ich das richtig?“, bohrte Oliver spitzfindig nach. „Meinst du, die hätten nichts Besseres zu tun, als in Big-Brother-Manier ihre Wähler beim Rätselraten zu beobachten?“ Er setzte sich auf die Couch und wartete auf Nadines Antwort. Hans schenkte sich derweil ein Glas Wasser ein.
„Hältst du es etwa für wahrscheinlicher, dass wir von Außerirdischen entführt wurden – ehrlich – ja?“ Nadine lachte verächtlich auf. „Du bist auch einer von der Sorte, oder?“
„Von welcher Sorte?“
„Diese Science-Fiction-Fans oder Trekkies, oder wie ihr euch nennt – aber eins sag ich dir – Bürschchen – die wahre Bedrohung kommt nicht aus dem Weltall – die kommt aus den eigenen Reihen.“
„Lass mich raten. Deine Startseite im Browser ist die-dümmsten-Verschwörungstheorien-dot-com?“
Nadine funkelte Oliver böse an, während Hans losprustete und seinen ersten Schluck Wasser gleich wieder ausspuckte. „Der war gut, Junge.“
„Und deine Startseite ist wir-glauben-an-kleine-grüne-Männchen-vom-Mars-Punkt-de?“
Üz und Üp – die beiden Beobachter im Nebenraum, die eben noch herzlich gelacht hatten – blickten sich und ihre grünlichen Wackelpuddingkörper verstört an.
„Woher wissen diese Hümanoiden, dass wir grün sind?“, fragte Üp besorgt und fummelte nervös mit seinen drei Fingern am linken Stielauge herum.
„Sicher nür Züfall.“ Üz stopfte sich eine Handvoll Popschnecken aus der Mikrowelle in den Hals. „Die glüben ja üch, dass wir vom Mars kommen.“
Üp schüttelte sich vor Ekel. „Wie kommen die nür üf so groteske Ideen? Ich würde mich ja nicht mal in die Ümlüfbahn dieses Planeten wagen.“
Üz sammelte eine heruntergefallene Popschnecke von der Schaltkonsole und steckte sie sich in den Mund. „Dü hast ja üch einen gesünden Menschenverstand.“ Sein Kollege beäugte ihn pikiert. Dann brachen sie beide in gehässiges Gelächter aus und widmeten sich wieder der Show.
„Der war schwach.“
Für diesen Kommentar kassierte Hans ein gekränktes Schnaufen von Nadine. „Hast du auch was Intelligentes zu sagen?“ Er nippte beschämt an seinem Glas, was Nadine sofort als Anlass nahm, um ihre Verschwörungstheorie zu vertiefen. „An deiner Stelle würde ich das lieber nicht trinken, du Schwachmat – könnte vergiftet sein – schon mal daran gedacht?“
Hans spuckte das Wasser wieder zurück und stellte das Glas beiseite. Oliver schüttelte entgeistert den Kopf. „Warum sollte man uns vergiften wollen?“
„Na, damit wir danach nicht reden können – und aller Welt davon erzählen, was man mit uns -“ Plötzlich unterbrach ein lautes metallenes KLONG in Verbindung mit einem heftigen Rüttler den erneuten Anflug eines Redeschwalls. „EIN ERDBEBEN!“, schrie Nadine und klammerte sich am Sofa fest. Der Boden erzitterte und bebte, während etwas Großes am Raumschiffrumpf entlang schrappte und dabei ein Geräusch verursachte, das wie ein eiserner Fingernagel an einer überdimensionalen Tafel klang. Die drei hielten sich verängstigt die Ohren zu, während das markerschütternde Kratzen und Quietschen durch das gesamte Raumschiff zog. Doch dann verebbten die Vibrationen und Stille kehrte ein. Oliver spürte wieder sicheren Boden unter den Füßen und blickte nach draußen. Wie hypnotisiert verfolgte er die Reste eines zertrümmerten Satelliten, die unschuldig am Fenster vorbei schwebten. „Glaubst du mir jetzt, dass wir im Weltraum sind?“
Nadine – noch unter Schock stehend und deutlich langsamer als sonst – beobachtete irritiert die Überbleibsel des Aufpralls, die sich langsam Richtung Erde bewegten. „Wieso? Könnte doch auch eine gut gemachte Simulation sein.“
Während unter den Menschen kurzzeitig etwas Frieden einkehrte, ging es bei Üz und Üp gerade drunter und drüber.
„Was soll das heißen, der war nicht üf den Anzeigen?“ Üz überprüfte besorgt alle Systeme ihres Schiffes auf mögliche Schäden durch den Aufprall.
Derweil blickte Üp nur ratlos auf die Übersicht aller Satelliten in der Umlaufbahn der Erde. „Der ist ja nicht mal jetzt üf den Anzeigen zü sehen!“
Üz unterbrach entgeistert seine Arbeiten. „Das war Weltrümschrott?“
Üp zuckte ratlos mit seiner wabbeligen Körpermasse. „Anders kann ich es mir nicht erklären. Wäre er in Betrieb gewesen, wäre das Schiff doch ütomatisch üsgewichen.“ Er schaltete auf eine Kameraansicht der Außenhaut. „Hier ist alles voll mit Weltrümschrott.“
Üz und Üp blickten sich verärgert an, bevor sie ihre Augäpfel wieder ihren menschlichen Gästen widmeten.
„Die könnten rühig mal ihren Müll wegrümen. Das ist ja gemeingefährlich.“
Um ihre Aufprall-war-eine-gut-gemachte-Simulations-Theorie zu beweisen, ging Nadine dazu über, den Raum nach versteckten Hinweisen auf eine Regierungsverschwörung abzusuchen. Oliver betrachtete nachdenklich die kleinen bunten Steine, die auf dem Glastisch lagen – und Hans aß einen Apfel. Er kaute vorsichtig darauf herum, versuchte zu schmecken, ob Giftstoffe darin enthalten sein könnten, und musste plötzlich lachen.
Nadine und Oliver wendeten fragend ihre Köpfe und erstere fühlte sich sofort angegriffen. „Was ist denn so komisch – hä?“
Hans kaute in aller Ruhe zu Ende und schluckte seinen letzten Bissen herunter. „Ich musste nur gerade an diese witzige Spam-Mail denken, die ich letzte Woche bekommen hab.“ Er verlagerte seine Stimme in den Bereich des Lächerlichen, bevor er fortfuhr mit: „Herzlichen Glückwünsch! Sie haben einen Flüg ins Weltall gewonnen!“ Er lachte wieder und schüttelte den Kopf. „Zufälle gibt’s.“
Oliver runzelte die Stirn. „Absender: Üz und Üp?“
„Jaaa!!!“ Hans klatschte begeistert in die Hände. „Hast du die auch gekriegt?“
Nadine bekam plötzlich ganz große Augen und öffnete den Mund. „Aber ja – natürlich – die ist bei mir gleich im Spamordner gelandet – aber das macht hier alles natürlich gleich viel klarer – ja – oh ja – wenn wir alle Einladungen per E-Mail bekommen haben – dann ist das ganz eindeutig ’ne Regierungsverschwörung – denn mal ernsthaft – woher sollten Außerirdische wissen, wie sie mit uns kommunizieren – ist doch lächerlich – das hier ist eine Verschwörung – ganz eindeutig.“
„Oder versteckte Kamera!“, quiekte Hans verzückt. „Das wär’s doch! Ich wollte schon immer mal ins Fernsehen.“
Oliver seufzte und setzte sich an den gläsernen Tisch. Jede weitere Diskussion erschien ihm überflüssig. Der Schlüssel zu ihrem Aufenthalt musste irgendwo in diesen Steinen liegen. Er nahm ein blaues, quadratisches Exemplar in die Hand und begutachtete es genau. An jeder Fläche des Würfels ragte entweder ein kleiner Stift hervor oder eine ebenso lange Kerbe wand sich ins Innere.
Hans beobachtete ihn interessiert. „Was meinst du, was das ist? ’ne Art Puzzle?“
Nadine beendete ihre Suche nach Pixelfehlern am Fenster und ließ sich Oliver gegenüber auf der Couch nieder. Der griff sich gerade einen zweiten Stein – wieder in Blau, aber diesmal in Form einer Pyramide. Er drückte die beiden Figuren aneinander – den Stift einer Fläche in die Kerbe einer anderen Fläche. Plötzlich verschmolzen die beiden Steine miteinander und glommen für einen Augenblick schwach auf. Oliver ließ die neue geometrische Form vor Schreck fallen.
Nadine klappte die Kinnlade herunter. „Cooool – das ist bestimmt so ’ne Art Intelligenztest – was meint ihr – müssen wir daraus was bauen – irgendwas Bestimmtes?“
Oliver rieb sich nachdenklich die Augen. „Das liegt hier bestimmt nicht umsonst herum.“
Prompt schnappte sich Hans eine Handvoll Steine und fügte sie in Windeseile zusammen.
„Stop!“, schrie Oliver und riss sie ihm aus der Hand. „Wir wissen doch gar nicht, was passiert, wenn wir sie zusammenstecken.“
„Doch, klar.“ Hans verzog spöttisch den Mund. „Sie verbinden sich.“
Nadine verdrehte entgeistert die Augen. „Aber zu was verbinden sie sich – das ist die Frage – und wir wissen nicht, wie man sie wieder auseinander bekommt – da muss ich Oliver ausnahmsweise mal recht geben – also – Finger weg, Blödmann.“
Hans ballte verärgert seine freie Hand zur Faust. „Niemand nennt mich Blödmann, du Schnepfe!“ Er warf die restlichen Steine auf den Tisch zu den anderen, die durch die Wucht aufgeregt auseinander sprangen und eine unerwartete Sicht auf die Unterseite des Glastisches gewährten. Ein rötliches Licht schimmerte hindurch. Vorsichtig schob Nadine ein paar der bunten Steinchen zur Seite und legte den Blick auf eine tickende Digitaluhr frei. Vier rote Ziffern zählten im Sekundentakt von 33:45, auf 33:44, auf 33:43, 33:42 …
Nadine sprang hysterisch auf. „EINE BOMBE!!!“
Hans wich erschrocken zurück. „Die Marsianer wollen uns umbringen!“
Oliver hingegen steckte seine Hände in die Hosentaschen und übte sich in Selbstbeherrschung. „Nicht jede abwärts zählende Uhr ist automatisch eine Bombe.“
Nadine, die auf die Couch gehüpft war, als würde eine Maus über den Boden huschen, fauchte ihn erbost an: „Ach ja, Mister Klugscheißer – was ist es dann – eine Eieruhr zum Kuchen backen?“
„Wahrscheinlich ist das einfach nur eine Zeitvorgabe, innerhalb derer wir irgendetwas Sinnvolles zusammenbauen sollen.“
Hans und Nadine beruhigten sich wieder und blickten auf die Steine. „Zusammenbauen – aber wozu – was sollen wir daraus anfertigen? – das ergibt doch keinen Sinn.“
Oliver kratzte sich konzentriert am Kinn. „Ich denke schon, dass es einen Sinn ergibt. Wir wissen nur leider nicht, welchen.“
Für wenige Sekunden trat nachdenkliche Stille ein. Nadine zupfte an ihrer Unterlippe herum, Hans blähte seine Backen auf und Oliver hob verwundert seine rechte Augenbraue. Er griff zaghaft nach dem Gebilde, das Hans in Eile zusammengesteckt hatte. Im Gegensatz zu den zwei Steinchen, die er selbst verbunden hatte, waren diese zu mehr als nur einem Stück verschmolzen. Sie formten etwas völlig Neues.
„Seht euch das mal an: Sieht fast aus wie …“ Er hielt es Hans fragend vor die Nase. „Was wolltest du gerade bauen, als ich es dir aus der Hand gerissen hab?“
Hans zuckte mit den Schultern. „Eine Banane.“
Oliver hielt das halbfertige, krumme Ding in der Hand, als sei es der Heilige Gral und musterte es von allen Seiten. Es wies nicht nur die Form einer halben Banane auf, es schien auch bereits die entsprechende Farbe anzunehmen. Nur noch der unfertige Teil zeugte von dem Material, aus dem es geschaffen wurde. Oliver schnappte sich ein paar Steine vom Tisch und fügte sie sachte an das offene Ende, bis er schließlich die Form einer Banane fertiggestellt hatte. Erneut leuchtete es auf – diesmal heller als zuvor – und plötzlich hielt Oliver eine perfekte Banane in der Hand – kaum zu unterscheiden von denen, die in der Obstschale lagen.
Hans und Nadine starrten sprachlos auf das gelbe Obst, während Oliver die Oberflächenbeschaffenheit prüfte. „Es fühlt sich auch an wie eine Banane.“ Er öffnete die Schale und legte das Fruchtfleisch frei, brach ein Stück ab, prüfte die Konsistenz und roch daran. „Es ist eine Banane.“
Üz machte sich erleichtert eine Notiz. „Ich dachte schon, die finden nie herüs, wie die Spielklötze fünktionieren.“
Nadine klappte die Kinnlade herunter. Darauf wusste sie nun wirklich nichts mehr zu sagen. Oliver steckte sich vorsichtig einen kleinen Bissen in den Mund und kaute bedächtig darauf herum. „Es ist eine Banane.“ Er grinste Nadine unverschämt an. „Ich sagte doch, wir wurden von Außerirdischen entführt. Oder kennst du eine irdische Technologie, die so etwas kann?“
Nadine schüttelte entgeistert den Kopf. Doch Hans war geradezu hingerissen. „Das heißt, wir können alles daraus bauen, was wir wollen?“
Oliver zuckte mit den Schultern. „Vermutlich. Diese Steine sind wie Lego für Erwachsene. Sobald man etwas daraus bastelt, wird es real.“ Er legte die Banane beiseite und musterte nachdenklich den Steinhaufen.
Nadine rutschte aufgeregt auf ihrem Sitz hin und her. „Wir könnten also alles Mögliche daraus erschaffen, richtig? – wir könnten zum Beispiel – wir könnten doch – ähm -“ Sie überlegte angestrengt. Aber ihr wollte einfach kein Beispiel einfallen. Unendliche Möglichkeiten, doch ihr Kopf schien völlig leer. Selbst Oliver wusste nicht, was sie daraus anfertigen sollten. Was machte hier Sinn? Was würde in weniger als einer halben Stunde passieren?
Hans hatte sich das scheinbar schon genau überlegt. Denn noch bevor Oliver einen klaren Gedanken fassen konnte, verkündete er stolz: „Wir könnten Waffen bauen!“ Die beiden anderen starrten ihn mit großen Augen an.
„Nein.“ Oliver schüttelte energisch den Kopf.
Doch Nadine fand die Idee gar nicht so schlecht: „Nein – wieso nein – damit können wir wenigstens was anfangen – daheim würden mir tausende Dinge einfallen – ich bräuchte zum Beispiel eine neue Handtasche – aber was will ich hier mit einer Handtasche – ist doch Blödsinn – aber Waffen – ja – Waffen – wir müssen uns schließlich verteidigen können!“
„Nein!“ Oliver bekam Panik. „Merkt ihr denn nicht, was das hier ist? Denkt doch bitte einmal logisch! Wenn du ein Entführer wärst, Nadine, würdest du deine Gefangenen in einen Raum mit potenziellen Waffen sperren? Das ist ein Test! Ein Test, wie wir mit dieser Situation umgehen.“
Hans fummelte sich verwirrt am Ohr herum. „Also doch keine Außerirdischen?“
„Wer behauptet, dass Außerirdische uns nicht auf die Probe stellen? Es muss ja nicht immer die Rektaluntersuchung sein, oder? Versteht ihr denn nicht? Das hier ist ein Psychotest!“
Verängstigte Blicke machten die Runde. Es war eine Sache, sich plötzlich in einem Raumschiff wiederzufinden, aber eine ganz andere, einen Psychotest von Außerirdischen bestehen zu müssen.
„Mal angenommen, du hast recht – das hier ist ein Test – ja – gut möglich – aber wenn das ein Test ist – was ist schlecht daran, wenn wir Waffen anfertigen? – wir bauen sie ja schließlich nur zur Verteidigung – das würde doch für eine gewisse Vorsicht sprechen – nicht wahr – und für Intelligenz – wir wären für alles gewappnet – nicht schutzlos ausgeliefert – zudem wären wir auch vorbereitet, wenn du falsch liegst und gleich irgendwelche gehirnhungrigen Aliens hier hereinkommen – ehrlich gesagt, falle ich lieber durch einen Test, als schutzlos ausgeliefert zu sein.“
„Sie hat recht“, bestätigte Hans. „Was, wenn das hier gar nicht beabsichtigt war?“
„Nicht beabsichtigt?“
„Ja!“ Hans setzte sich neben Oliver auf die Couch und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter. „Wenn wir aus Versehen an Bord gebeamt wurden oder so. Vielleicht wissen die gar nicht, dass wir hier sind.“
Nadine nickte hektisch. „Genau – und wenn sie hierher kommen, werden sie mächtig sauer – und greifen uns an – und töten uns – willst du getötet werden, Kleiner?“
„Nein. Natürlich nicht. Aber das –„ er blickte flehend von einem zum anderen, „das ergibt doch keinen Sinn. Was ist mit der E-Mail? Wir wurden doch eingeladen!“
„Und dann gegen unseren Willen hierher verschleppt.“ Hans sprang entschlossen auf. „Wir sollten Waffen bauen!“ Er schnappte sich ein paar Steine und Nadine tat es ihm gleich. Voller Elan begannen sie, die bunten Klötze miteinander zu verbinden. Nadine steckte sich eine kleine Handfeuerwaffe zusammen und Hans bastelte an einer Pumpgun. Nur Oliver zögerte noch. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und plötzlich überkam ihn für einen Augenblick ein unbändiges Gefühl der Trauer – so stark, dass ihm eine einzelne Träne entwich.
Nadine musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. „Kein Grund, gleich zu heulen, Jungchen.“ Sie vervollständigte ihre Pistole, die sich mit einem kurzen Aufleuchten zu einer geladenen Waffe verwandelte. Oliver blickte ausdruckslos in ihr entschlossenes Gesicht. Die Uhr tickte beständig weiter. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie erfuhren, was hier wirklich vor sich ging. Wobei sich Oliver selbst in dieser Hinsicht nicht mehr ganz so sicher war.
Was, wenn die Uhr überhaupt keine Rolle spielte? Was, wenn sie einfach nur eine Zeitanzeige war, die gleich wieder zum Anfang sprang? Was, wenn ihre Anwesenheit wirklich nur ein Versehen war? Vielleicht platzten gleich wütende Außerirdische herein, die sie zerfleischen würden. Aber vielleicht kämen auch freundliche Außerirdische herein, die dann von ihnen zerfleischt würden. Eventuell würde auch einfach niemand kommen. In seinem Kopf drehten sich Dutzende Möglichkeiten – keine wahrscheinlicher als die andere. So in Gedanken versunken, merkte er gar nicht, wie er nebenbei selbst an etwas bastelte.
Erst als sich das fertige Modell in ein reales Gebilde verwandelte, erkannte er, was er da geschaffen hatte.
„Na?“ Hans zwinkerte ihm zu. „Doch noch zur Vernunft gekommen, Kleiner?“ Er lud seine Pumpgun durch wie der Held eines schlechten Actionfilms. Oliver hielt eine Pistole in Händen. Wie in Trance strich er über das glatte Metall des Laufs. Nie zuvor hatte er eine echte Waffe zwischen seinen Fingern und nie im Leben hätte er daran geglaubt, jemals so etwas benutzen zu wollen. Doch scheinbar war sein Überlebenstrieb größer als die Vernunft. Da saßen sie nun – alle drei – bewaffnet bis an die Zähne.
„Ich glübe, ich habe ein Déjà-vü“, grummelte Üp und tippte eine kurze Anmerkung in seinen Computer. „Man könnte fast meinen, wir stecken in einer Zeitschleife fest.“
„Das wäre ja trümhaft. Dann könnten wir üns nämlich nicht mehr an die letzten zehn Grüppen dieser Primaten erinnern.“ Üz seufzte gelangweilt und warf sich eine Popschnecke in den Mund. „Na immerhin haben sie sich diesmal nicht gegenseitig verdächtigt. Üf die Schweinerei kann ich echt verzichten.“
Oliver beobachtete seine Leidensgenossen. Seit dem Moment, da sie ihre Waffen in Händen hielten, schienen sie wie ausgewechselt. Keine Spur mehr von Angst. Jetzt waren sie die Herren im Haus. Doch in Oliver stieg erneut Panik auf. Es wirkte plötzlich alles so falsch. Irgendetwas passte nicht so recht. Er blickte sich um. Weit und breit gab es keine Anzeichen einer Überwachungskamera – keine Spiegel, durch die man sie observieren könnte. Was, wenn er hier das einzige Testobjekt war? Was, wenn sich seine Beobachter in diesem Raum aufhielten?
Die beiden anderen wirkten für ihre angeblich deutsche Herkunft äußerst versiert im Umgang mit Schusswaffen. Doch das war nicht das einzig Verdächtige an ihnen. Nadine, die mit ihrem Gerede über eine Regierungsverschwörung davon ablenken wollte, was hier wirklich vor sich ging – Hans, der ihm ständig Fragen stellte, obwohl er doppelt so alt war und Oliver normalerweise belächeln würde. Nein, das passte nicht. Die beiden waren keine Menschen.
Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf und richtete seine Waffe auf Nadine. „Du bist eine von denen, oder?“
Nadine fuhr erschrocken zusammen und starrte ängstlich in die Mündung der Pistole. Hans reagierte prompt und zielte mit seiner Pumpgun auf Oliver. „Nimm sofort die Waffe runter, Junge!“
„NEIN! Sie ist eine von denen!“ Seine Unterlippe zitterte vor Erregung. „Und du auch!“ Er richtete seine Pistole auf Hans – völlig verunsichert und wild umher fuchtelnd. „Oder? Du bist doch – und sie ist auch -“ Oliver wusste nicht so recht, auf wen er seine Waffe richten sollte und schwenkte sie hektisch hin und her. „Gebt euch zu erkennen! Ich weiß, was ihr seid!“ Er kicherte ein wenig irre und zielte wieder auf Nadine, merkte plötzlich, dass seine Waffe gar nicht entsichert war und fummelte ungeschickt daran herum. Ein Schuss löste sich und schlug nur wenige Zentimeter von Nadine entfernt in die Couch ein. Der laute Knall und der Rückschlag erschreckten Oliver so sehr, dass er beinahe die Pistole fallen ließ. Er reagierte jedoch rechtzeitig, fing sie auf und blickte sich beschämt um.
Hans hatte sich hinter der Couch versteckt und Nadine war regelrecht erstarrt vor Angst. An ihrem Bein tröpfelte warmer Urin herunter. Oliver wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Das konnte nur ein Mensch sein.
Üz stöhnte verärgert. „Mir reicht’s. Brechen wir ab, bevor wir wieder dieses ekelhafte Blüt beseitigen müssen.“
„Aber sie haben noch zwei Minüten.“
„Glübst dü etwa, die basteln üns noch schnell ein paar Pralinen?“ Er grunzte verächtlich, betätigte einen Knopf und lehnte sich angespannt zurück. „Üf den Tag kannst dü lange warten.“
Mit einem leisen Surren schob sich eine komplette Wand des Raumes wie ein Rollladen nach oben und erlaubte den drei Menschen einen Blick auf ihre beiden Beobachter. Da saßen sie: Üz und Üp – zwei grüne Wackelpuddingwesen, nicht mal halb so groß wie Nadine – lugten hinter ihren Computern hervor und blickten die Menschen erwartungsvoll an.
Die erste Reaktion: schießen. Oliver und Hans richteten ihre Waffen auf die Aliens und feuerten einen Schuss nach dem nächsten ab. Nur Nadine stand tatenlos daneben und zitterte apathisch. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht wirklich an die Existenz ihrer außerirdischen Entführer geglaubt. Doch nun starrte sie direkt in diese leicht durchsichtigen Wackelpudding-Gesichter, die schlau genug waren, sich hinter einer kugelsicheren Glaswand aufzuhalten. Da sich Oliver und Hans keine Munition zum Nachladen gebaut hatten, dauerte ihre Schießwut nicht allzu lange an. Oliver drückte noch ein paar Mal verzweifelt auf den Abzug, doch es tat sich nichts mehr. Dann senkten sie ihre Waffen und glotzten gebannt auf die beiden Wesen, die bislang nicht mal mit der Wimper gezuckt hatten.
Üz streckte eines seiner Stummelärmchen zur Seite und drückte teilnahmslos auf einen Knopf. Im selben Augenblick zerfielen alle gebastelten Waffen und Bananen in ihre Einzelteile und verstreuten sich klimpernd über den Fußboden. Oliver blickte erschrocken auf seine Hand, die nun keine Pistole, sondern nur noch ein paar lose Steinchen umklammerte, die er perplex fallen ließ. Seine Gedanken kreisten derweil um die Banane, in die er vorhin so arglos hineingebissen hatte.
Üp beugte sich nach vorn und drückte auf ein Knöpfchen, das einen Kommunikationskanal öffnete. „Danke, dass Sie am offiziellen Feststellüngsverfahren des Galaktischen Rats zür Bestimmüng der Einteilüng in die Fettnäpfchenskala teilgenommen haben. Wenn Sie dann so fründlich wären, Ihre Hinterlassenschaften üfzüwischen ünd sich anschließend dürch die Tür dort zü begeben. Wir wünschen einen angenehmen Tag.“ Er verwies auf einen offenen Durchgang, der plötzlich in der Wand klaffte. Oliver und Hans blickten entgeistert zur Tür. Nadine starrte beschämt auf ihre Urinlache, die sie offenbar aufwischen sollte. Doch keiner von ihnen rührte sich vom Fleck.
Üp beugte sich erneut nach vorn und drückte auf den Kommunikationsknopf: „Bitte gehen Sie dürch die Tür. Danke.“ Er ließ den Knopf wieder los.
Oliver erwachte aus seiner Erstarrung und schüttelte sich kurz. Der Anblick von echten Außerirdischen hatte sein Denkvermögen wohl für kurze Zeit gelähmt. Doch nun arbeitete es wieder auf Hochtouren. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Doch mit welcher sollte er beginnen? „Fettnäpfchenskala?“
Üz und Üp warfen sich seufzende Blicke zu. Typisch. Erst mal schießen und dann Fragen stellen. Doch Üp ließ sich gnädigerweise zu einer Erklärung herab. „Die Fettnäpfchenskala ist eine vom Galaktischen Rat festgelegte Einteilüng für Lebensformen, die technisch in der Lage wären, ihren Heimatplaneten zü verlassen.“
Oliver starrte ratlos ins Leere. „Einteilung in was?“
„Dreizehn verschiedene Level.“
„Und wir wurden soeben eingeteilt?“
„Ähm, ja, Sekünde.“
„In welchen Level?“
Üz und Üp verglichen kurz ihre Aufzeichnungen, dann klickte Üz in seinem Computerprogramm auf Level 1 und Üp nickte. Während Üz die Eingabe bestätigte, bequemte sich sein Kollege wieder zum Kommunikationsknopf. „Level eins. Herzlichen Glückwünsch.“
Oliver verstand nicht recht. „Was bedeutet Level eins? Ist das gut oder schlecht?“
„Kommt üf den Standpünkt an. Wenn Sie es bevorzügen, dass jede intelligente Lebensform einen großen Bogen üm Ihr Sternsystem macht – dann ist das wohl güt.“
Die drei Menschen wechselten irritierte Blicke. Nadine fehlte seit ihrem kleinen Malheur komplett die Sprache und Hans war von dieser Situation maßlos überfordert. Oliver blieb der Einzige, der sich noch halbwegs imstande fühlte, eine Konversation zu führen. „Das heißt: Wir wurden als gefährlich eingestuft?“
„Gibt Schlimmeres.“ Üp ließ den Knopf wieder los und wandte sich an Üz. „Level nüll züm Beispiel.“ Sie lachten gehässig.
Oliver spürte, wie sich alles zu drehen begann – ein schummriges Gefühl der Ohnmacht überkam ihn. Die Menschheit wurde als gefährlich eingestuft? Jede Spezies im Universum würde einen großen Bogen um sie machen? Wie konnte das passieren? Sie waren doch so viel mehr als nur gefährlich.
„Aber – aber können wir denn gar nichts dagegen tun?“, wisperte er voller Demut.
„Wenn Sie dann bitte so fründlich wären, dürch die Tür zü gehen.“ Üz und Üp wirkten zusehends genervter. Diese Konversationen nach der Einteilung hassten sie. Egal, welchen Level sie vergaben, immer musste diskutiert werden. Level zu niedrig, Level zu hoch, Level zu mittig – irgendwas gab es immer zu bemängeln.
Oliver beobachtete die beiden Außerirdischen, während sie sich hinter ihrer sicheren Glaswand miteinander unterhielten. Obgleich sie von einem fremden Planeten kamen und ihre Gestik und Mimik vermutlich anders ausfielen als bei den Menschen, glaubte er dennoch, zu erkennen, dass sich ihr Gespräch in eine hitzige Debatte entwickelte. Üz bemerkte, dass Oliver sie angaffte, schob Üp zur Seite und drückte auf den Kommunikationsknopf. „Jetzt verpisst üch endlich!“ Er ließ wieder los, doch der Knopf klemmte fest. Ein Stück Popschnecke hatte sich darin verkeilt. Nadine zog sich zitternd ihre Strickjacke aus und wischte damit ihren Urin auf. Hans schlurfte langsam Richtung Tür, gefolgt von Oliver.
„Die Kommünikation ist meine Üfgabe!“, schimpfte Üp. Oliver wandte sich um, erkannte aber sofort, dass die Außerirdischen nicht mehr mit ihnen sprachen.
„Ist mir doch egal! Ich kapier sowieso nicht, warüm dü immer alles erklären müsst! Diese Spezies macht’s doch eh nicht mehr lange. Ein Glück sind die üf Level eins, sonst müssten wir womöglich noch Starthilfe leisten.“
„Hab doch mal ein bisschen Mitleid“, konterte Üp. „Level eins ist der letzte Scheiß, das weißt dü genüso güt wie ich. Eigentlich ist Level nüll schon fast besser. Immerhin hält sich dann sogar der Abschüm des Üniversüms fern. Aber das Tragische ist: Meistens bleiben diese Level-Eins-Spezies üf ihrem Planeten hocken und bekommen ständig Besüch von Zeitspringern.“
„Wo hast dü denn diesen Blödsinn her?“
„Üs der Kosmikolikon.“
„Dü glübst üch jeden Dreck, der in dem Klatschblatt drin steht, oder?“
„Na irgendwie müss ich mir ja die Zeit vertreiben, bei dieser dämlichen Arbeit für den Galaktischen Rat. Dass ünsere Vorfahren üch ünbedingt wieder die Rümfahrt üfnehmen müssten.“
„Ich brüch jetzt erst mal einen Drink. Lass üns bei der nächsten Rümstation mal haltmachen.“
„Damit wir üns in so ner billigen Spelünke was einfangen? Ohne mich!“
„Dann bleib halt hier sitzen ünd -“
Mehr von dem Gespräch bekam Oliver nicht mehr mit. Ein Glück. Mehr davon hätte er wohl auch nicht verkraftet. Ihm war schlecht. Tausende Gedanken sprudelten durch seinen Schädel. Zeitspringer? Kosmikolikon? Galaktischer Rat? Er trat durch die Tür und stand im nächsten Moment in seinem Zimmer. Nadine und Hans waren verschwunden. Die Außerirdischen waren weg. Auf einmal wirkte alles nur noch wie ein fürchterlicher Alptraum.
Als er die wunderbare Gulaschsuppe roch, die seine Mutter gerade zubereitete und die Musik wahrnahm, die aus den Boxen seines Computers drang, schienen Üz und Üp und ihre geringschätzige Einstellung gegenüber der Menschheit plötzlich sehr weit weg.
Bis zum nächsten Morgen hatte sich bei Oliver die Überzeugung eingestellt, dass er wohl in eine seltsame Form des Tagträumens verfallen war. Als er jedoch mit fürchterlichen Schmerzen einen außerirdischen Legostein in die Kloschlüssel abseilte, stellte sich die Erkenntnis ein, dass die Menschheit dank ihm und einiger anderer erlesener Exemplare niemals einen freundlichen Kontakt mit einer extraterrestrischen Spezies pflegen würde. Er seufzte enttäuscht: „Na ja. Scheiß drauf.“
© Daniela Rohr 2013
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